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Autor
Stiftung Humboldtforum im Berliner Schloss (Hg)

(Post)Kolonialismus und kulturelles Erbe

Untertitel
Internationale Debatten im Humboldt Forum
Beschreibung

Die Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte und (post)kolonialen Kontinuitäten zählt zu den großen Herausforderungen des Humboldt Forums. Sie wird das Wirken dieser Kultureinrichtung entscheidend prägen. In diesem Band kommen prominente, global agierende Museumsfachleute zu Wort, die das Humboldt Forum in seiner Entstehung begleitet haben. Mit ihren Beiträgen beteiligen sie sich an internationalen Debatten, wie der leidenschaftlich geführten Auseinandersetzung um Provenienz und Restitution ethnologischer Sammlungen.

Mit Beiträgen von George Okello Abungu (Nairobi), Kwame Anthony Appiah (New York), Philipp Blom (Wien), Hartmut Dorgerloh (Berlin), Rita Eder (Mexiko City), Hu Wei (Shanghai), Jyotindra Jain (New Delhi), Lars-Christian Koch (Berlin), Lee Chor Lin (Singapur), Neil MacGregor (London), Natalia Majluf (Lima), Wayne Modest (Amsterdam), Nazan Ölçer (Istanbul), Barbara Plankensteiner (Hamburg), Thomas Thiemeyer (Tübingen), Abdoulaye Touré (Dakar)
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Hanser Verlag, 2021
Format
Gebunden
Seiten
248 Seiten
ISBN/EAN
978-3-446-26642-1
Preis
18,00 EUR

Zum Buch:

Die westlichen Museen haben unbestritten ein museologisches Knowhow, wie man konservierend mit Artefakten umgeht. Mit Artefakten aus unserem Kultur- und Denkkreis, um einem wissensdurstigen Publikum Denk- und Sehenswürdiges vergangener und gegenwärtiger Epochen nahe zu bringen. Es sind dies vor allem ästhetische und historische Werte, die den Besuchern vermittelt werden sollen und zugleich der Stolz auf das, was unsere Altvorderen und gegenwärtigen Künstler aus ihrer Zeit machen oder gemacht haben. Die legitimen divergenten Sichtweisen auf die Welt vermitteln und Nachdenken anregen. Dies ist das Anliegen des Humboldt Forums, das als Bannerträger dieser zweifellos (menschen)-freundlichen Idee auf den Schild gehoben wird.

Das „kulturelle Erbe“ im Titel kommt eigentlich freundlich und unverfänglich daher. Aber wenn man die schräggestellten Quadrate auf der Titelseite interpretiert, dann ist hier einiges gerade zu richten. Die Debattenbeiträge sollen dazu ihren Beitrag leisten.

Mir scheint bei aller kritischen Hervorhebung der nationalstaatlichen Egozentrik und ihres Anspruchs auf universelle Darstellung der Weltdinge ganz Wichtiges außer Sicht zu geraten, und zwar die Urheber dieser Weltdinge, deren Besitz heute nicht mehr in ihren Händen liegt. Über deren Interpretation unsere Museen entscheiden, aber nicht im Sinne ihrer Urheber . Wie ist deren Auffassung von Geschaffenem, von „Artefakten“ wie wir es nennen? ANDERS!

„Der Westen“ meint, die Konzeption des Geschaffenen sei aus seiner Sichtweise zu verstehen, also entgegen aller Denkprinzipien anderer Völker. Eine afrikanisch-animistische Vorstellung findet darin keinen Platz. Hätten sich unsere Räuber-Sammler jemals die Mühe gemacht, afrikanische Denker und Künstler zu befragen, wären sie auf andere spirituelle Verfasstheiten gestoßen.

Die zweifellos stichhaltigen Anmerkungen zur imperialen Stellung und Einstellung des Humboldt Forums und zu dem, was es noch an alter Tradition transportiert, scheinen mir nicht das Wesentliche zu umfassen: Mir fehlt der Rückgriff auf die menschlichen Schöpfer der Dinge und ihre Weltsicht. Drei Autoren bringen dies zum Ausdruck: Der Literaturwissenschaftler und Sozialhistoriker Abdoulaye Touré, Jyotindra Jain sowie der Archäologe und Generaldirektor des „National Museums of Kenia“ George Okello Abungu .

Die afrikanische Museumskonzeption muss sich entschieden von unserer unterscheiden, weil für eine themengerechte Darstellung im Lebenskontext afrikanischer Völker ganz andere geschichtliche Prioritäten existieren. Was aber noch wichtiger scheint, ist der Blick auf die Entstehung der Artefakte, ihre Bedeutung und Bedeutsamkeit und ihre Funktion im Leben der Bevölkerung. Genau an dieser Schnittstelle setzt Abungu an und weist darauf hin, dass die westliche Kulturideologie, die den Artefakten eine „Heimstatt“ geben will, ganz entschieden falsch liegt. Es gehe weder um sterile Architektur noch um „laborkonforme“ Lagerbedingungen. Die Heimat solcher Artefakte könne (ja müsse) eine ihnen gemäße Umgebung sein, ein heiliger Hain, ein Gelände oder ein Gewässer. Diese Gegenstände seien nicht zur erbaulichen Betrachtung bestimmt, sondern würden oft als Wohnsitz der Geister verstanden, die sie repräsentieren und dann wieder den Weg zurückfinden in ihre Geisterwelt. Es sind dies Glaubensvorstellungen, die zu unseren westlich-konservatorischen Arbeitsbedingungen in großem Widerspruch stehen. Es fehlt unserer kulturellen Welt an Achtung und Empathie für das, was über unseren Tellerrand hinaus geht. Und auch an Fantasie für das Irrationale. Warum?

Das Schlusswort von Hartmut Dorgerloh klingt ermutigend und zeigt, wie weit der Weg noch sein wird. Es wird ein Weg sein, der von beiden Seiten begangen werden wird: Afrika und die Kolonialländer werden auch museumsähnliche Wege der Vor- und Darstellung ihrer Artefakte finden, das heißt, sich „modernen Prinzipien“ annähern, und unsere „klassische“ Museumskonzeption muss viel mehr Elemente der fremden Kulturen in sich aufnehmen und verstehend darstellen. Es fragt sich nur, wie sehr Afrika und die Kolonialländer damit ihre Authentizität aufgeben.

Notker Gloker, Heiligenberg