Zum Buch:
Psychopompoi, wörtlich übersetzt Seelengeleiter, d.h. die Begleiter der Toten auf ihrem Weg ins Jenseits, kommen in fast allen Religionen vor und werden häufig als Raben oder Eulen dargestellt. Sie sind titelgebend für den Roman von Amélie Nothomb, die nach einer traumatischen, sie dem Tod nahebringenden Erfahrung in ihrem Schreiben psychopompe Arbeit sieht.
Als Tochter eines belgischen Konsuls ist Amélies Aufwachsen geprägt von Umzügen in immer wechselnde Länder, von Japan über China bis nach Bangladesch. In Japan lernt sie als kleines Kind von ihrem Kindermädchen ein japanisches Märchen kennen, in dem ein zur Frau verwandelter Kranich aus seinem Gefieder Kleider spinnt für ihren Mann. Mit jedem weiteren Kleid wird ihr Gesundheitszustand schlechter, doch sie arbeitet weiter, getrieben vom Druck ihres Mannes, bis sie schließlich, zurück in einen Kranich verwandelt, vor ihm flieht. Fasziniert von dieser Geschichte, werden Vögel in Amélies Kindheit ihre ständigen Begleiter – sie beobachtet sie und hört ihnen stundenlang bei ihrem Gesang zu, vor allem in Japan. Vögel sind das verbindende Element all der Stationen ihres Lebens, und in Maos China, in dem alle Vögel als vermeintliche Schädlinge ausgerottet werden sollten, leidet sie Qualen. Da die junge Amélie kaum soziale Kontakte pflegt, sucht sie Trost in Bildung, lernt Sprachen und beginnt, erste literarische Werke zu übersetzen. In ihrer Zeit in Bangladesch verbringt sie mit ihrer Familie die Ferien am Meer. Beim Schwimmen fühlt sie sich frei, das Tauchen durch die Wellen erinnert sie an den Flug der Vögel. Bei einem dieser Ausflüge wird sie jedoch von mehreren Männern im Wasser sexuell belästigt, Hände greifen nach ihr und ziehen sie unter Wasser, bis ihre Mutter sie aus der Situation retten kann. Dieser Vorfall wird prägend für Amélie, sie entwickelt eine Essstörung und hungert sich beinahe zu Tode. Erst Jahre später findet sie wieder Halt, vor allem im Schreiben. Sie beginnt, sich und ihr Schreiben als psychopomp zu begreifen, will mit ihren Arbeiten den Seelen der Toten Frieden schenken. In diese Tradition setzt die Autorin nun all ihre Werke, bis heute. Schreiben wird für Sie zum täglichen Kampf mit sich selbst, der nicht verloren werden darf. Bei jedem Aufwachen fürchtet sie, es verlernt zu haben, sieht in sich einen Vogel vor seinem ersten Flug, in Ungewissheit, wirklich fliegen zu können. Der erste, dem sie ihre Manuskripte zu lesen gab, war ihr Vater, der im Januar 2020 verstarb. Ganz in ihrer Rolle als Psychopompos schrieb sie daraufhin den Roman Der belgische Konsul, um die Seele ihres Vaters zu geleiten.
Was bewegt Menschen dazu, zu schreiben? Amélie Nothomb gibt uns in ihrem Buch einen tiefen Einblick in ihre Entwicklung zur Schriftstellerin. Gekonnt verbindet sie die Auswirkungen kindlicher und jugendlicher Erfahrungen auf ihr erwachsenes Dasein als Schriftstellerin. Auf beeindruckende Weise lässt sie dabei historisches sowie mythologisches Wissen mit persönlicher Erfahrung zusammenfließen und den Leser teilhaben an dem Weg, der sie zu der bekannten Schriftstellerin werden ließ, die sie heute ist.
Fabian Kemp, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt a. M.