Zum Buch:
Diese Ausgabe des Jahrbuchs Lateinamerika beschäftigt sich mit den vielfältigen Facetten der Erinnerungskultur von Gewalterfahrungen. Sie ist ein außergewöhnlich anregende Lektüre. So legt beispielsweise Ruth Stanley dar, wie die Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs im Fall Perus (Amnestien wurden grundsätzlich als völkerrechtswidrig erklärt) eine entscheidende Grundlage für die spätere Aufhebung der Notstandsgesetze in Argentinien legte. Wolfgang Heinz gibt einen Überblick über die Arbeit der Wahrheitskommissionen in Lateinamerika und stellt fest, dass sich der Schritt von der Dokumentation der Verbrechen zu ihrer strafrechtlichen Verfolgung bisher als äußerst schwierig erwies. Stefan Rinke beschreibt, wie in Chile der Putsch gegen Allende am 11. September 1973 zunächst als nationalistische Jubelfeier des Pinochet-Regimes inszeniert wurde und in den 1980er Jahren die Umdeutung zum Tag des Protestes und der Menschenrechte durch Regimegegner erfolgte. Annette Heidhues stellt dar, wie die Umwidmung der ehemaligen Marineschule ESMA in Buenos Aires – während der Diktatur eines der berüchtigsten Gefangenenlager – zum nationalen Erinnerungsort Gegenstand intensiver gesellschaftlicher Debatten zur Erinnerungskultur wurde. Anne Becker und Olga Burkert vergleichen die Protestkultur der hijos, der Kinder der Verschwundenen in Argentinien und Mexiko. Die neue Aktionsform der sogenannten “escraches” fand in Argentinien große öffentliche Resonanz, in Mexiko hingegen ist das Thema der Repression der 1970er Jahre im kollektiven Bewusstsein weiterhin kaum existent. Lars Fürsorge hat in seinem Beitrag zur Erinnerungskultur in Guatemala indigene Jugendliche zur Zeit der violencia befragt. Während das nationale Erinnerungsprojekt (CEH) diese Zeit als abgeschlossene Epoche historisiert, sehen viele Jugendliche darin eine Kontinuität der Unterdrückung von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart. Weitere Artikel behandeln die geschlechtsspezifische Aufarbeitung von Diktatur und Gewalt im Cono Sur, die selbstkritische Auseinandersetzung mit den Visionen und der Gewalt der Guerilla in Argentininen, die kulturelle Revolutionierung des Alltagslebens durch die 68er Bewegungen, die Instrumentalisierung des Mythos Simón Bolivar durch Hugo Chávez sowie aktuelle Länderberichte zu Kuba und Ecuador.
Christoph Dietz (Bücher zu Lateinamerika)