Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Roth, Joseph; Zweig, Stefan

»Jede Freundschaft mit mir ist verderblich«

Untertitel
Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927-1938
Beschreibung

„Ich hatte das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung, und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram.“ Dieses kurze, von Irmgard Keun verfasste Charakterportrait Joseph Roths entspricht der Stimmung, die die Lektüre des zwischen ihm und Stefan Zweig geführten Briefwechsels im Leser auslöst: Anhaltende und sich von Seite zu Seite steigernde Bedrückung.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Wallstein Verlag, 2011
Format
Gebunden
Seiten
624 Seiten
ISBN/EAN
978-3-8353-0842-8
Preis
39,90 EUR

Zum Buch:

„Ich hatte das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung, und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram.“ Dieses kurze, von Irmgard Keun verfasste Charakterportrait Joseph Roths entspricht der Stimmung, die die Lektüre des zwischen ihm und Stefan Zweig geführten Briefwechsels im Leser auslöst: Anhaltende und sich von Seite zu Seite steigernde Bedrückung.

Das klingt kaum nach einer Buchempfehlung und es ist dennoch das ergreifendste Dokument des Exils, das mir je unter die Augen gekommen ist. Die Geschichte des Untergangs einer Welt in Briefen. Auf der einen Seite der erfolgsverwöhnte Wiener Großschriftsteller, Grandseigneur und Ästhet, nach eigenen Worten mehr Jude aus Zufall, denn aus Neigung. Auf der anderen Seite der ruhelose, aus erbärmlichen materiellen Verhältnissen stammende Ostjude, der von sich sagt, dass er sich seit seiner finsteren Kindheit zur Helligkeit emporstöhne. Ein Mann, der in schäbigen Hotels als Zeilen schindender Journalist um seine Leben schreibt und als Dichter den erloschenen Glanz des Hauses Habsburg beschwört, dem er noch in kindlichem Zutrauen anhängt, als dieses Haus und die mit ihm verbundene Ordnung schon längst im Strudel des ersten großen Krieges von der politischen Landkarte verschwunden ist.

Der schriftlichen Unterhaltung dieser beiden Verlorenen haftet etwas zutiefst Innigliches an, weil sie an die Hilfe erinnert, die sich der Blinde und der Lahme aus der Fabel wechselseitig angedeihen lassen. Während Stefan Zweig sich darauf verlegt, dem darbenden Freund immer wieder finanziell unter die Arme zu greifen und nicht müde wird, den schweren Trinker von der Flasche abzubringen –„Ich lade Sie nach Ostende ein, weil hier ein für Sie vorteilhaftes Schnapsverbot herrscht“- versucht Joseph Roth unablässig, seinen Bruder im Geiste von dessen in dezentem Pazifismus erstarrten politischen Naivität zu erlösen: „Es gibt da einen gewissen Punkt,“ schreibt Roth drei Monate nach der Machtergreifung der Nazis, „an dem die Noblesse zur Pflichtverletzung wird, und obendrein noch nichts hilft. Denn für die Bestien drüben bleibt man doch ein gefährlicher Saujud.“

„Ich habe Ihnen drei oder viermal geschrieben, immer ohne Antwort, und ich glaube durch unsere alte Freundschaft das Recht zu haben, Sie zu fragen, was Sie mit diesem hartnäckigen und hoffentlich nicht böswilligen Schweigen sagen wollen“. Dieser letzte besorgte Brief, den Stefan Zweig an Joseph Roth am 17.12.1938 richtete, blieb unbeantwortet; das Schreiben ging bereits ins Leere. Es ist dies die Leere, die die Auslöschung des europäischen Judentums hinterlassen hat. Niemand, der diese Briefe heute liest, wird sich dieser anhaltenden Verlusterfahrung entziehen können.

Günter Franzen, Frankfurt a.M.