Zum Buch:
Sie habe sich an die Stille gewöhnt, behauptet sie, und jedes Geräusch, das sich ab und an über diese Stille lege, sei ihr mittlerweile so vertraut wie der eigene Herzschlag.
Es ist spät an diesem Abend geworden. Die mittlerweile fünfundachtzigjährige Dorothy Gallagher sitzt an ihrem Schreibtisch in Manhattan, hebt den Blick von der Tastatur und schaut durch das bodentiefe Fenster auf den Central Park und die 5th Avenue hinunter. Die Erfahrung eines vierzigjährigen Berufslebens als Autorin hat sie gelehrt, dass ein Text noch lange nach dem letzten Satz nachzuhallen vermag, ganz gleich, wie genügsam und unprätentiös der auch klingen mag.
Und das Nachhallen der Worte, die sie nun liest, als sie sich wieder dem Bildschirm zuwendet, füllt den gesamten Raum und übertönt jegliche Stille: Wärst du doch nur hier. Wärst du doch nur hier. Wärst du doch nur hier. Das schreibt sie jeden Tag. Immer dasselbe. Denn der Verlust, den sie empfindet, ist kaum in klarere Worte zu fassen.
Sie verzweifelt nicht an der Leere, die vor ihr liegt, da sie der Meinung ist, sich verhältnismäßig gut im Griff zu haben. Sondern in erster Linie daran, dass sie ihrem Mann, der erschreckend plötzlich an einem Virus gestorben ist, noch so Vieles hatte erzählen wollen, und das erscheint ihr nur allzu natürlich. Daher dieser eine, klare, immer wiederkehrende Wunsch: Wärst du doch nur hier.
So könnte sie ihm beispielsweise von ihrem Tagesablauf nach dem Umzug aus der gemeinsamen Wohnung berichten. Oder von den Spottdrosseln, die auf dem Dach nisten und sich vor dem Habicht in Acht nehmen müssen. Sie könnte ihm auch von den Freunden erzählen, solchen, die leben und zuweilen auf einen Besuch vorbeikommen, und anderen, die ebenfalls gegangen sind und nie mehr wiederkommen. Sie könnte ihn fragen, ob er sich erinnert: an einen besonderen Tag im Mai; an dieses eine, ganz bestimmte Buch, dessen Titel ihr partout nicht mehr einfallen will; oder diesen gelben Bademantel, an den sie gerade denken muss.
Sie könnte ihn auch bitten, ihr den Leichtsinn damals, an diesem herrlichen Junimorgen zu verzeihen, als sie ihm einen Kuss gegeben hatte, obwohl sie erkältet war und nur zu genau wusste, wie angeschlagen und gefährdet er durch seine Vorbelastung bereits war.
Sie schaut erneut zum Fenster hinaus und erinnert sich an eine blutige Geschichte, in der ein Geist vorkommt, der nur einen einzigen Wunsch gewährt. Bisher war ihr diese Geschichte nur schauderhaft vorgekommen, doch sie weiß nun, worum sie den Geist bitten würde: „Um nichts Großes. Um alles. Nur ein paar Minuten, um Abschied nehmen zu können.“
Und was ich dir noch erzählen wollte ist ein Buch, das Licht und Dunkelheit in sich zu vereinen weiß, ein Kleinod, dass traurig macht und zugleich den Willen stärkt, dass Leben zu feiern. Eine gestandene Frau von über achtzig Jahren drängt es, die Stille zu durchbrechen und ihrem verstorbenen Mann all das zu sagen, wofür in der Todesnacht weder Raum noch Zeit war, und sie besitzt die Größe, uns daran teilhaben zu lassen. Dies sind Geschichten, die bleiben, die lange nach dem letzten Satz nachhallen.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln