Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Gallagher, Dorothy

Und was ich dir noch erzählen wollte

Untertitel
Aus dem Amerikanischen von Monika Baark. Foto: Lina Scheynius
Beschreibung

Die Autorin Dorothy Gallagher hat nach dreißig Ehejahren ihren Gatten an ein tückisches Virus verloren. Sie bedauert zutiefst, dass dieses so rasch eingetretene Verhängnis ihr die Möglichkeit nahm, sich verabschieden und ihrem Mann noch einige wichtige Dinge erzählen zu können. Das holt sie nun nach.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
AKI Verlag, 2021
Format
128
Seiten
Seiten
ISBN/EAN
978-3-311-35002-6
Preis
20,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Dorothy Gallagher wurde 1935 als Tochter russisch-jüdischer Emigranten in New York geboren. Die Welt ihrer Kindheit in Washington Heights war bunt und wild: Im Wohnzimmer hing ein Porträt von Lenin, den sie für ihren Großvater hielt. Obwohl ihre Eltern größte Vorbehalte gegen alles Bourgeoise hatten, wurde die kleine Dorothy für Partys bei Macy’s eingekleidet. Behalten durfte sie die Kleider natürlich nicht, nach der Party wurden sie wieder zurückgebracht. Ihr Studium konnte Gallagher nicht beenden, weil sie vom College flog. Eine ganze Weile schrieb sie Artikel über die Welt der Reichen und Schönen, um sich finanziell über Wasser zu halten, ehe sie schließlich Redakteurin beim Magazin Redbook wurde und als Journalistin reüssierte. Später machte sie sich selbstständig, schrieb u.a. für die New York Times und für Grand Street. Zu ihren Büchern zählen das Memoir Life Stories, Hannah’s Daughters und die Biographie des italo-amerikanischen Anarchisten Carlo Tresca All the Right Enemies.

Zum Buch:

Sie habe sich an die Stille gewöhnt, behauptet sie, und jedes Geräusch, das sich ab und an über diese Stille lege, sei ihr mittlerweile so vertraut wie der eigene Herzschlag.

Es ist spät an diesem Abend geworden. Die mittlerweile fünfundachtzigjährige Dorothy Gallagher sitzt an ihrem Schreibtisch in Manhattan, hebt den Blick von der Tastatur und schaut durch das bodentiefe Fenster auf den Central Park und die 5th Avenue hinunter. Die Erfahrung eines vierzigjährigen Berufslebens als Autorin hat sie gelehrt, dass ein Text noch lange nach dem letzten Satz nachzuhallen vermag, ganz gleich, wie genügsam und unprätentiös der auch klingen mag.

Und das Nachhallen der Worte, die sie nun liest, als sie sich wieder dem Bildschirm zuwendet, füllt den gesamten Raum und übertönt jegliche Stille: Wärst du doch nur hier. Wärst du doch nur hier. Wärst du doch nur hier. Das schreibt sie jeden Tag. Immer dasselbe. Denn der Verlust, den sie empfindet, ist kaum in klarere Worte zu fassen.

Sie verzweifelt nicht an der Leere, die vor ihr liegt, da sie der Meinung ist, sich verhältnismäßig gut im Griff zu haben. Sondern in erster Linie daran, dass sie ihrem Mann, der erschreckend plötzlich an einem Virus gestorben ist, noch so Vieles hatte erzählen wollen, und das erscheint ihr nur allzu natürlich. Daher dieser eine, klare, immer wiederkehrende Wunsch: Wärst du doch nur hier.

So könnte sie ihm beispielsweise von ihrem Tagesablauf nach dem Umzug aus der gemeinsamen Wohnung berichten. Oder von den Spottdrosseln, die auf dem Dach nisten und sich vor dem Habicht in Acht nehmen müssen. Sie könnte ihm auch von den Freunden erzählen, solchen, die leben und zuweilen auf einen Besuch vorbeikommen, und anderen, die ebenfalls gegangen sind und nie mehr wiederkommen. Sie könnte ihn fragen, ob er sich erinnert: an einen besonderen Tag im Mai; an dieses eine, ganz bestimmte Buch, dessen Titel ihr partout nicht mehr einfallen will; oder diesen gelben Bademantel, an den sie gerade denken muss.

Sie könnte ihn auch bitten, ihr den Leichtsinn damals, an diesem herrlichen Junimorgen zu verzeihen, als sie ihm einen Kuss gegeben hatte, obwohl sie erkältet war und nur zu genau wusste, wie angeschlagen und gefährdet er durch seine Vorbelastung bereits war.

Sie schaut erneut zum Fenster hinaus und erinnert sich an eine blutige Geschichte, in der ein Geist vorkommt, der nur einen einzigen Wunsch gewährt. Bisher war ihr diese Geschichte nur schauderhaft vorgekommen, doch sie weiß nun, worum sie den Geist bitten würde: „Um nichts Großes. Um alles. Nur ein paar Minuten, um Abschied nehmen zu können.“

Und was ich dir noch erzählen wollte ist ein Buch, das Licht und Dunkelheit in sich zu vereinen weiß, ein Kleinod, dass traurig macht und zugleich den Willen stärkt, dass Leben zu feiern. Eine gestandene Frau von über achtzig Jahren drängt es, die Stille zu durchbrechen und ihrem verstorbenen Mann all das zu sagen, wofür in der Todesnacht weder Raum noch Zeit war, und sie besitzt die Größe, uns daran teilhaben zu lassen. Dies sind Geschichten, die bleiben, die lange nach dem letzten Satz nachhallen.

Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln