Zum Buch:
Zwei Menschen auf einer Fähre irgendwo am Mittelmeer. Kato, die junge Frau, zeichnet. Lev, der junge Mann, beobachtet sie. Offensichtlich reisen sie zusammen, kennen sich lange, kommen vielleicht aus demselben Ort. Er sehnt sich nach Hause, wo immer das sein mag; will zurück. Und dann sagt sie: „Ich komme mit.“
Das ist, kurz zusammengefasst, der Inhalt des ersten Kapitels von Lichtungen, dem neuen Roman von Iris Wolff. Nur dass es eben nicht das erste Kapitel ist, sondern das neunte, eben nicht, wie erwartet, ein Anfang, sondern ein Ende. Denn hier wird rückwärts ge- und erzählt. Wir erfahren also nicht, was geschehen wird, nachdem die Entscheidung zur Rückkehr getroffen wurde, wohl aber, Kapitel um Kapitel, was davor lag. Wissen kann man vielleicht, was war, nie, was sein wird, vielleicht, was ist.
Was ist und war, das ist die Liebe von Kato und Lev, die weit in ihre Kindheit in einem rumänischen Dorf zurückreicht. Damals lag Lev aufgrund eines Unfalls lange gelähmt im Bett, und Kato wurde von der Schule dazu abgeordnet, ihm den Schulstoff zu vermitteln. Später, als ihr Vater sie mit 14 von der Schule nimmt, um ihm den Haushalt zu führen, tut der wieder gesunde Lev dann dasselbe für sie. Die beiden sind Gegensätze: Kato, die hochtalentierte Zeichnerin mit der genauen Beobachtungsgabe, will nach der Revolution in Rumänien nur noch fort, will aufbrechen, Neues sehen, und ergreift die erste Gelegenheit, die sich ihr bietet: Als der Fahrradtourist Tom ins Dorf kommt und einige Zeit bleibt, besorgt sie sich ein Fahrrad und fährt mit ihm weg, ohne Ziel, aufs Gradewohl, hinaus in die Welt; aus jeder Stadt schickt sie Lev eine Karte. Lev dagegen liebt den heimischen Wald und (mit Ausnahmen) die Familie, deren Mitglieder aus Österreich, dem Banat, Rumänen stammen, sich immer fremd bleiben und doch zutiefst miteinander verbunden sind. Und so geht es immer weiter zurück in der Geschichte von Kato und Lev, und damit auch in die des Landes und dessen Geschichte. Gegen Katos Aufbruchssehnsucht stehen Levs Verlusterfahrungen, denen er den Verlust der vertrauten Heimat nicht hinzufügen will und kann.
Durch die umgekehrte Erzählreihenfolge umkreist Iris Wolff – und wir mit ihr – in spiralförmiger Bewegung die ProtagonistInnen; das Ende jedes Kapitels und damit jeder Station in deren Leben ist der Anfang des vorherigen. Das macht die Lektüre zu einer einzigartigen, flirrenden Erfahrung: man taucht immer tiefer in das Leben der Figuren ein, erkundet einen tiefen Schacht, dessen Schichten sich erst erschließen und erklären, wenn man von unten nach oben schaut. Wolfs ungeheuer poetische, so täuschend einfache wie flirrende Sprache, die das Dorf und die Landschaft förmlich zum Leben erweckt, tut das Ihre dazu. Lichtungen zu lesen ist ein großes, manchmal schwindelerregendes Erlebnis, das alle als selbstverständlich geltenden Erwartungen an Literatur und Erzählen mit leichter Hand auf den Kopf stellt und einfach nur glücklich macht.
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.