Zur Autorin/Zum Autor:
Fen Verstappen, geboren 1981, lebt in Amsterdam. Sie studierte Philosophie und arbeitet als Werbetexterin. Lebenslektionen meiner Mutter ist ihr Debütroman.
Das gibt es selten: ein dünnes Buch von 133 Seiten, ein Text in kurzen Abschnitten und eine Lektüre, die sich von anfänglicher Skepsis – zu glatt, zu flapsig und vor allem: schon wieder Familie – zu großer Begeisterung wandelt. Fen Verstappen hat mit ihrem Romanerstling Lebenslektionen meiner Mutter ein beeindruckendes Buch über eine Familie geschrieben, die gleichzeitig eine Arbeitsgemeinschaft ist und die sich nach dem plötzlichen Schlaganfall der Mutter völlig neu erfinden muss.
(ausführliche Besprechung unten)
Eine Familie, die gleichzeitig eine Arbeitsgemeinschaft ist: Tochter Biek macht Handtaschen, Sohn Tijn ist Schmuckdesigner, die älteste Tochter und Ich-Erzählerin, in der man getrost die Autorin vermuten darf, arbeitet hauptberuflich als Werbetexterin und organisiert im Hintergrund Messen und den öffentlichen Auftritt für das kleine, aber exquisite Modelabel, das die Mutter aufgebaut hat. Sie steht im Zentrum der Handlung – eine energiegeladene, eigenwillige und schlagfertige Frau, chaotisch und unangepasst, aber mit sicherem Gespür für Stil, die entwirft und schneidert, ihre Stoffe selbst färbt und das kleine Familienunternehmen allein aufgebaut hat. Sie und die Geschwister sind eine eingespielte Truppe, aber wie in allen Familien sind ihre Beziehungen nicht frei von Verletzungen. Und dann erlischt von einer Minute auf die andere das Zentralgestirn: Die Mutter erleidet eine Hirnblutung, wird zum bewegungs- und sprachunfähigen Pflegefall.
Fen Verstappen erzählt die Geschichte in kurzen bis sehr kurzen Abschnitten. Sie wechselt in der Erzählhaltung. Als ICH erzählt sie aus der unmittelbaren Gegenwart, aus der Zeit bevor das Unglück geschah, und aus der Vergangenheit, als der alkoholkranke Vater die Familie noch nicht verlassen hatte. Ihre Stimme wechselt zum WIR, wenn sie für alle drei Geschwister spricht. Mit DU spricht sie die Mutter direkt an. Zwischengeschaltet sind vier Einschübe mit den „Lebenslektionen“ der Mutter. Die Sprache ist knapp, prägnant, unsentimental und oft von trotziger Komik; es bleibt den LeserInnen überlassen, sich den Schrecken hinter den sich überschlagenden Ereignissen auszumalen. Kurze Szenen werfen ein Schlaglicht auf die Beziehungen innerhalb der verschworenen Geschwistergemeinschaft, die plötzlich ihres Zentrums beraubt ist und sich in völlig neuen Rollen wiederfinden muss. Die nicht mehr wie eine kleine Kampfeinheit in exquisiter, provokativ-stilvoller Garderobe und Springerstiefeln zur Messe zieht, sondern verzweifelt versucht, sich gegenüber ignoranten Ärzten und überfordertem Pflegepersonal durchzusetzen.
Mit ihren Romanerstling Lebenslektionen meiner Mutter hat Fen Verstappen ein beeindruckendes, kluges und fein beobachtetes Buch über die Zerbrechlichkeit des Lebens geschrieben. Darüber, wie schnell unsere Normalität sich ins Gegenteil verkehren kann, aber auch, dass es möglich ist, das Leben, so anzunehmen, wie es geworden ist.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.