Zum Buch:
Das Flugzeug, mit dem Hema von ihrem Indienurlaub zurückkehrt, muss eine Notlandung machen – wie sich später herausstellt, aus fingierten Gründen. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in dem äthiopischen Missionskrankenhaus Missing wird sie auch noch zu einer kritischen Entbindung gerufen. Die Geburt von am Kopf zusammengewachsenen Zwillingen ist bereits in vollem Gang. Es gelingt ihr, die beiden Jungen Marion und Shiva durch eine Operation erfolgreich auf die Welt zu holen und voneinander zu trennen. Aber sie kann die Mutter, eine indische Nonne, nicht retten, nicht zuletzt weil Thomas Stone, der bei der Geburt anwesende Chirurg und mutmaßliche Vater der beiden, als Geburtshelfer komplett versagt. Stone kann den Tod dieser Frau und sein ärztliches Unvermögen nicht ertragen und verschwindet spurlos. Hema nimmt entschlossen die Kinder zu sich und verpflichtet ihren Kollegen Gosh (der ohnehin in sie verliebt ist), die Vaterrolle zu übernehmen. Sie ist an diesem ereignisreichen Tag also auch noch Zwillingsmutter geworden. Diese chaotischen Ereignisse seien hier nur als kleiner Ausschnitt aus der Vorgeschichte der Romanhandlung nacherzählt, die in den 1950er Jahren beginnt, in Addis Abeba und, vor der Rückkehr des Ich-Erzählers Marion nach Äthiopien, im letzten Drittel in New York spielt.
Marion und Shiva wachsen auf in der geschlossenen und idyllischen Welt der Missionsstation “Missing”, deren Name auf einen amtlich gewordenen Schreibfehler von “Mission” zurückgeht. Geschickt wird der Lebenslauf der Zwillinge mit der (fiktionalisierten) Geschichte Äthiopiens verknüpft. Farben und Gerüche der fremden Stadt sind sehr authentisch und sprachmächtig beschrieben. Spannend sind die Szenen um den Staatsstreich gegen Kaiser Haile Selassie. Das Missionshospital und die Ärzte sind in die Ereignisse auf vielfältige Weise verwickelt. Gosh war der Arzt eines der Aufrührer und wird inhaftiert. Wie sein ganzer Hausstand und die Angestellten des Hospitals ihn mit Essen versorgen, ihre Kontakte nutzen, welche Auswirkungen das Geschehen auf die beiden Jungen hat, das ist atmosphärisch dicht und mitreißend erzählt. Die Protagonisten der politischen Ereignisse sind historischen Personen nachempfunden, darauf weist die umfangreiche Danksagung des Autors, die auch eine kleine Bibliographie umfasst, ebenso hin, wie auf die abweichende Datierung der Ereignisse.
Geschichten, wenn zum Beispiel Marion von Gosh lernt, Herztöne richtig zu hören, oder wenn er der Tochter einer äthiopischen Hausangestellten, die mit den Jungen wie eine Schwester aufwächst, seine Liebe gesteht; wenn er nach seiner Flucht in die USA eine äthiopische Freundin wieder trifft oder dort seinem leiblichen Vater, der inzwischen ein berühmter Professor der Chirurgie ist, im Hörsaal begegnet.
Medizin, Gerüche, Geräusche, die Arbeitsumstände in der Klinik, Krankheiten und ihre häufig erbärmlichen Ursachen nehmen in dem Roman viel Raum ein. Hier fließt wohl einiges von den Erfahrungen des Autors ein, der als Sohn indischer Eltern in Addis Abeba aufwuchs, Arzt wurde und in die USA übersiedelte. Etwas überzeichnet wirken Hema und Gosh, deren Leidenschaft für die Medizin keine Erschöpfung kennt, und auch das perfekte Zusammenleben, das diese Patchworkfamilie vorführt. Natürlich begeistern sich auch die Zwillinge für die Medizin. Shiva, der Geniale, verschreibt sich der Gynäkologie und wird, ganz ohne Medizinstudium, nur angeleitet von Hema, zum anerkannten Experte für Fisteln. Marion, der Fleißige und Verantwortungsbewusste, wird ein begabter Chirurg. Es geht in diesem Roman sehr kühn -und das macht zweifellos den Reiz des Buches mit aus – um die ganz großen Themen: Liebe, Tod, Gott, Vergebung. Der Roman bietet, das bleibt als Fazit, ein pralles, satt erzähltes, oft anrührendes Lesevergnügen auf fast 800 Seiten.
Claudia Biester, Frankfurt am Main