Zum Buch:
Drei Männer, eine junge Frau, ein Wochenendhaus: Max und Reik sind seit zwanzig Jahren ein harmonisches Vorzeige-Paar und haben zu diesem „Jubiläum“ nur ihren langjährigen Freund Tonio und dessen Tochter Pega eingeladen. Viele beneiden Max und Reik um ihre Beziehung, und immer wieder ernten sie wohlmeinende Vorwürfe dafür, sie nutzten die politisch erkämpfte Möglichkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe nicht. Wer wenn nicht diese beiden!
Max ist engagierter Professor für Archäologie an der Universität, Reik ein international erfolgreicher Künstler, dem seine Bilder und Skulpturen aus unterschiedlichsten Materialien von Galeristen in aller Welt aus den Händen gerissen werden. In ihrem spartanisch geschmackvoll eingerichteten Landhaus entfliehen sie immer wieder nicht nur der Stadt, sondern auch Reiks Popularität. Im Gegensatz zum extrovertiert schillernden Reik wirkt Max – zumindest in seiner Selbstbeschreibung – fast farblos und eher konservativ.
Und Tonio? Tonio ist Musiker und war mit Reik zusammen, bevor er vor zwanzig Jahren ungeplant Vater wurde. Obwohl er erst achtzehn war und noch zu Hause bei seiner italienischen Mutter und seiner Nonna wohnte, hatte er sich durchgesetzt, als sein One-Night-Stand mit der schönen Bettina Folgen hatte. Ohne zu zögern beschloss er, das Kind alleine groß zu ziehen. Pega wurde von gleich drei Männern auf Händen getragen und wuchs entsprechend umsorgt und geliebt auf. Wenn Tonio nachts in verschiedenen Bars am Klavier das Geld für seine kleine Familie verdiente, blieb Pega bei Max und Reik. Und auch an diesem Wochenende auf dem Land bieten Max und Reik ihrer längst erwachsenen Ziehtochter eher einen heißen Kakao als ein Glas Wein an.
Kühmel lässt in ihrem kammerspielartigen Setting des Landhauses nacheinander alle vier Personen in eigenen Kapiteln gleichberechtigt zu Wort kommen. Daraus entsteht eine einfühlsame Struktur, die sich durch die gegenseitigen Beziehungen zieht und immer wieder völlig neue Blickwinkel eröffnet. Wie unterschiedlich die Personen sich gegenseitig wahrnehmen und wer für wen welche Bedeutung hat, ist oft überraschend. Zwischen den Männern bewegen sich die Dialoge im Spannungsfeld zwischen freundschaftlicher Zugewandtheit und verletzenden Anspielungen. Pega schwankt zwischen dem Bedürfnis, sich in die vertraute Geborgenheit fallen zu lassen, und dem Wunsch, endlich als erwachsene Frau wahrgenommen und behandelt zu werden.
Der Begriff Kintsugi, den Kühmel als Titel für ihr Debüt gewählt hat, bezeichnet ein japanisches Kunsthandwerk, bei dem zerbrochenes Porzellan mit Gold repariert wird. Diese Kunstform (kin = golden, tsugi = zusammenfügen) geht auf die Geschichte eines japanischen Shoguns im 14. Jahrhundert zurück, der versehentlich seine liebste Teeschale zerbrach. Die Keramiker seines Landes wählten vergoldetes Harz, um die Bruchstellen der Teeschale neu miteinander zu verbinden. Anstatt also die Beschädigung zu verstecken, wurde sie in einem künstlerischen Akt betont und die Schale so zu neuer Schönheit erhoben. Kintsugi wird bis heute in Japan ausgeübt, und seine Symbolik hat viel mit Zen zu tun. Die Vorstellung, dass ein Gegenstand mit Bruchstellen kostbarer werden kann und dass das Zerbrechen und Reparieren auch ein Aspekt menschlicher Beziehungen ist, ist das tragende Hintergrundmotiv dieses Romans.
Miku Sophie Kühmel beleuchtet in Kintsugi aktuelle Lebens- und Beziehungskonzepte. Durch ihre feine und genaue Beobachtungsgabe erscheinen alle vier Protagonisten auf ihre Art liebenswert und vor allem glaubwürdig. Nicht umsonst hat es die Autorin mit ihrem Erstling auf die diesjährige Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft und erhält Ende Oktober den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt