Zum Buch:
Soziologisch gesehen, ist der Begriff des „Angestellten“ ebenso ungeklärt wie geläufig. Siegfried Kracauer (1899-1966), einer der Pioniere der Angestelltenforschung, nannte die Angestellten schlicht „Unteroffiziere des Kapitals“. Wenn man davon ausgeht, dass es etwa so viele Angestellte gibt wie Berufsgruppen, könnte man verführt sein, von einer „Angestelltengesellschaft“ zu sprechen. Rein sozialstatistisch-quantitativ betrachtet, ist das abwegig, obwohl seit 1989 auf 100 Arbeiter/Arbeiterinnen 107 Angestellte kommen. Der Sozialwissenschaftler und ehemalige politische Sekretär beim „Sozialistischen Büro“ und beim Vorstand der IG Metall schafft mit seinem Buch Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie entschieden mehr Klarheit.
Geblieben ist den Angestellten – seit sie nicht mehr wie vor dem Ersten Weltkrieg „Privatbeamte“, „Handlungsgehilfen“ oder „Kommis“ heißen – ihre ambivalente Stellung in der Gesellschaft zwischen unten und oben, drinnen und draußen. Unter den aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen kann man das befristete vom unbefristeten Angestelltenverhältnis unterscheiden, wobei das befristete „alle Nachteile eines Angestellten“ enthält, „ohne dessen Vorteile zu besitzen“. Von Hartz IV sind momentan allerdings beide betroffen, und ihre ambivalente Position ist dadurch charakterisiert, dass der/die Angestellte dieser prekären Situation gerne entrinne würde, aber nach Lage der Dinge nur „eine illusionäre Exit Option“ hat – die noch prekärere Selbstständigkeit oder die Arbeitslosigkeit.
Kern kennt die soziale Lage der Angestellten aus beruflicher Nähe. Bei Bewerbungsgesprächen, an denen oft auch Psychologen und Beratungsfirmen beteiligt sind, ist dem Bewerber das Balancieren zwischen Selbstsicherheit und Bescheidenheit sozusagen Pflicht, denn Personen vom Rand – Hochmütige und Überängstliche – sind in den meisten Firmen nicht erwünscht und werden in der ersten Runde aussortiert. Erfolgreicher ist, wer sich auf den „goldenen Mittelweg“ begibt, sozusagen die Normalexistenz des Dazwischen jedes Angestellten. „Bunte Hunde“ sind nur in der Werbe- und IT-Branche gefragt.
Den Büroalltag beherrschen Ordnung und ein möglichst aufgeräumter, aber keinesfalls leergeräumter Schreibtisch, denn der deutet auf mangelnde Auslastung hin, die noch schlechter ankommt ist als ein Akten- und Papierdurcheinander. Für die Ordnung auf dem Schreibtisch ist der /die Angestellte auf sich allein angewiesen, denn auf die Hilfe eines „Büroengels“ in der Person einer Sekretärin müssen in der Regel auch Angestellte mit Hochschulabschluss in mittlerer Position verzichten. Sie sind für alles selbst zuständig, vom Fahrkartenkauf und der Hotelreservation bis zur Reisekostenabrechnung, der Ablage der Eingänge im elektronisch vorgegebenen Aktenplan, dem Telefondienst und dem Fotokopieren von Dokumenten. Elementar im Bürobetrieb ist ein raffiniertes Geflecht von Aktennotizen, mit denen sich der Angestellte gegen Attacken von oben und Insubordination von unten gleichermaßen schützt. Kern bezeichnet die Aktennotiz treffend als „Versicherungspolice“ des Angestellten gegen Zumutungen der „inneren Ordnung“.
Die moderne Bürotechnologie – PC, Tablet, Smartphone und Laptop – sorgt dafür, dass der Angestellte nie vergisst, was er ist – ein fast jederzeit einsetzbares Instrument, das die Trennung von Arbeits- und Freizeit zu vergessen lernt. Der gemütliche „Bürotrott“ des „Komm-ich-nicht-heute-komm-ich-halt-demnächst“ von einst wurde längst zum „Dauergalopp“ gesteigert. Eine große Umfrage mit 260.000 IG-Metall-Mitgliedern ergab, dass vielen von ihnen Zeit wichtiger ist als Geld. Eine große Mehrheit entschied sich für eine temporäre Arbeitszeitverkürzung und gegen eine Entgelterhöhung. Entgegen der populären Unterstellung, es gehe in Tarifrunden immer nur um Geld, plädierten die IG Metall und ihre Mitglieder massiv für mehr „ disposable time“ („verfügbare Zeit“), wie Marx den „wirklichen Reichtum“ im Gegensatz zum nur „geldförmigen“ nannte.
Die Gewerkschaften stecken allerdings in drei Dilemmata. Erstens gelten sie als Männerclub und haben entsprechend Mühe, weibliche Angestellte zum Eintritt zu bewegen. Zweitens sieht „das relativ wohlversorgte Klientel“ der deutschen Angestellten aller Geschlechter keinen Grund mehr, „sich als ausgebeutete Arbeiterschaft zu verstehen“. Und drittens sind die Unternehmer immer darauf bedacht, die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) zwischen Arbeitern und Angestellten mit allen Mittel zu pflegen und zu fördern und damit auch die Ideologie, dass sich Angestellte als Teil „ihrer“ Firma halluzinieren und nicht als Ohnmächtige, die der Solidarität, des kollektiven Schutzes und der Kampfbereitschaft gegenüber Machtbesitzern bedürfen. Über die Qualität eines Tarifvertrags entscheidet auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Aber vielen Angestellten fehlt die Einsicht, dass ihre Mitgliedschaft sie selbst und die Durchsetzungskraft der Organisation stärkt.
Peter Kern fragt angesichts dieser Probleme: „Wer schult den Angestellten das Gehör“ für die Einsicht, dass es maßgeblich Gewerkschaften waren, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutz, Arbeits- und Ferienzeiten u.a. durchgesetzt haben und dass es gilt, diese zivilisatorischen Errungenschaften im Namen von Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat zu verteidigen: „Die Gewerkschaften sind die institutionalisierte Erinnerung an das, was die Gesellschaft im Inneren strukturiert: Ökonomische Macht- und Ohnmachtsverhältnisse.“
Die Studie überzeugt in ihrer dichten und praxisnahen Beschreibung des heutigen Angestelltendaseins. In ihren längeren kulturkritischen Überlegungen zur Motivation und Bedeutung des Konsumverhaltens von Angestellten (etwa der „SUV“ als virtueller Hochsitz und Kommandoposten¬ oder der „Rucksack“ als „Fluchtgepäck“ aus der Angestelltenwelt) verlässt sich der Autor mangels belastbarer empirischer Daten zu leichtfüßig auf Spekulationen und Improvisationen. Aber das tangiert die Stringenz seiner Argumentation in rundum überzeugenden Kapiteln des Buches nicht.
Rudolf Walther, Frankfurt