Zur Autorin/Zum Autor:
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Ein Schriftsteller hat einen Roman geschrieben über die große Liebe seiner Jugend. Nach einer Lesung steht eine Frau vor ihm, die er nicht erkennt. Aber sie ist es trotzdem. Er ist jetzt Autor, sie ist seine Romanfigur – und aus dem jungen Mädchen von damals ist ganz offensichtlich eine interessante, auch anziehende, aber verheiratete Frau geworden. Die Situation wird etwas befremdlich: Man setzt sich zusammen, trinkt ein Glas Wein, redet über französische Liebesromane, fragt sich, was man von der Liebe erwartet, wenn man älter geworden ist, Juttas Mann sitzt im Nebenzimmer – wie soll das alles enden?
(ausführliche Besprechung unten)
Ein Wiedersehen nach 30 Jahren. Er, Schriftsteller, ist mit seinem neuen Roman ausgerechnet in dem Provinzstädtchen auf Lesereise, in dem seine Hauptfigur „Jutta“ lebt. Zufall? Für ihn war die kurze intensive Liebesgeschichte mit Jutta, damals vor 30 Jahren, mehr als eine Affäre. Am Ende der Lesung steht sie plötzlich vor ihm, möchte das Buch signiert haben. Nach anfänglichem Zweifel weiß er, sie ist es wirklich, „die Schönste des Schulhofs“, die Heldin seines Romans. Noch immer ist sie attraktiv, wirkt sehr anziehendauf ihn. Er lädt sie ein, ihn zum Abendessen mit den Veranstaltern zu begleiten. Anschließend spazieren sie gemeinsam durch das Städtchen, in dem sie mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt. Sein erotisches Kopfkino ist schon während des ganzen Abends aktiv, er spürt seine früheren Gefühle aufkeimen. Vor ihrem Zuhause angekommen, bittet sie ihn auf ein Glas Wein herein. Ist das der Beginn einer erneuten Liebesbeziehung?
Eher nicht, denn gleich nach Betreten des Hauses hat Jutta einen kurzen, aber heftigen Streit mit ihrem Ehemann. So landen die beiden statt in einer Umarmung mitten in Juttas Eheproblemen. Seine Wunschvorstellungen muss der „Romanschreiber“, wie die Hauptfigur durchgängig genannt wird, erst einmal zurückstellen. Im Wohnzimmer, zwischen der zurückgelassenen Unordnung der Kinder und dem großen Bücherregal mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, erzählt Jutta von ihrer Ehe, den Differenzen mit ihrem Mann, ihrem Frust, den beiderseitigen Versuchen, sich zu trennen. Die einzige Gemeinsamkeit der Ehepartner scheinen die sexuellen Tantra-Praktiken zu sein.
Während der „Romanschreiber“ sich ernsthaft mit Juttas Problemen auseinandersetzt, wandern seine Gedanken zu seiner eigenen gescheiterten Ehe, zieht er Vergleiche zu Figuren der Weltliteratur, stellt er Überlegungen an, was die Ehe im Allgemeinen und Besonderen zusammenhält, denkt er darüber nach, wie er bei Jutta doch noch zum Zuge kommen könnte und verarbeitet im Kopf bereits alles, was er an diesem Abend sieht, hört, denkt und fühlt, zu einem neuen Roman.
Der Leser ist mit den wechselnden Zeitebenen, den Vor- und Rückblenden, den Analysen, den inneren Monologen, den Dialogen, den Verweisen auf Proust, Balzac, Stendal, Kundera, Green, Goethe mehr als gefordert. Aber er wird belohnt mit der Erkenntnis, dass all die kleinen und größeren Malaisen in der Liebe und der Ehe schon einmal durchlebt wurden und es immer mehrere Sichtweisen dazu gibt. Sei es im Alltäglichen oder auch in der Literatur.
Brigitte Hort, Eitorf