Zum Buch:
Im nächsten Jahr wird Hans-Ulrich Wehler 80 Jahre alt. Eben ist ein Band mit kleineren Aufsätzen, Essays und Rezensionen erschienen. Man staunt, wie der Autor auch dieses Feld bestellt, neben seiner Arbeit an der monumentalen fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte. Der neue Sammelband enthält 30 Texte sowie den Abdruck von Wehlers Beiträgen zur FAZ-online-Debatte über den letzten Band der Gesellschaftsgeschichte.
Die Texte sind in vier thematische Blöcke gegliedert und umfassen die politische Kultur, das Problem des Nationalismus, methodische Fragen der Geschichtsschreibung sowie Rezensionen. Der erste Themenblock zur politischen Kultur versammelt Texte, die man auch als politische Interventionen des Wissenschaftlers bezeichnen könnte. Wehler hat sich immer ins politische Handgemenge eingemischt, weil er die historisch-politische Aufklärung des Publikums durch Historiker für selbstverständlich hält. Von konservativen Kollegen hat ihm das den rüden Anwurf eingetragen, er sei ein neuer Treitschke, als ob Wehler ein deutsch-nationaler Tambourmajor wäre wie der wilhelminische Einpeitscher. 2006 kam ein bizarrer Streit darüber auf, ob es in der deutschen Gesellschaft eine Unterschicht gebe. Alle Parteien waren der Meinung, Unterschichten existierten in der BRD nicht, – außer die Linke, was allerdings nicht gerade für ihre Befangenheit im Steinzeitmarxismus (Wehler) spricht. Wehler griff mit einem Essay in die Debatte ein und rechnete den übrigen Parteien vor, dass die nivellierte Mittelstandgesellschaft nichts weiter als ein CDU-SPD-FDP-Selbstbetrug sei. Die Disparitäten zwischen oben und unten, Armen und Reichen, in die Kultur Einbezogenen und davon Ausgeschlossenen sind nicht kleiner, sondern größer geworden. Egalitäre Transferpolitik, wie sie alle Parteien beanspruchen und wie sie konservative Ideologen von Hans-Olaf Henkel bis Peter Sloterdijk als Teufel an die Wand malen, ist ein Phantom. Im zweiten Themenblock beschäftigt sich Wehler mit der Entwicklung des Nationalismus. Der brachte es in Deutschland von einer Intellektuellendoktrin um 1810 mit 1000 bis 1200 Anhängern zu einer national-demokratisch-sozialen Bewegung von unten im Vormärz, die allerdings in der Revolution von 1848 unterlag, von Bismarcks Einigungspolitik von oben abgelöst wurde und nach 1870/71 in die homogenisierende Politik des Reichsnationalismus mündete. Im Abschnitt über methodische Fragen belegt Wehler, dass sich die sozialwissenschaftlich fundierte Gesellschaftsgeschichte nicht zu verstecken braucht vor dem modischen Anspruch auf Überlegenheit der literarischen Erzählung oder vor der prätentiösen neuen Kulturgeschichte in der Geschichtswissenschaft.- Der Sammelband bietet historische Aufklärung für jeden historisch-politisch Interessierten auf hohem Niveau. Rudolf Walther, Frankfurt am Main