Zur Autorin/Zum Autor:
Hélène Visconti, lebt seit vielen Jahren in Ligurien. Es gefällt mir, hier im Schatten eines Olivenbaums zu sitzen. Ich schaue aufs Meer, das dasselbe Meer ist, auf das ich als Kind in Algerien geschaut habe.
Eine Kindheit in Algerien, Flucht vor der Unabhängigkeitsbewegung nach Marokko, Illegalität in Frankreich, Aufenthalte in Spanien und Italien. Ein Weg aus Armut und Gelegenheitsarbeit auf die Laufstege von Mailand. Schließlich die Heirat in eine der ältesten Adelsfamilien Italiens. Keine Geschichte aus dem Goldenen Blatt, sondern ein Leben, das in erster Linie von dem Gefühl bestimmt ist, an jedem Ort, zu jeder Zeit, fremd zu sein. Hélène Visconti erzählt ihre Geschichte in einer wunderbar klaren Sprache, unsentimental und ohne falsches Pathos.
Hélène verlebt ihre Kindheit und Jugend in Algerien. Damals hieß sie noch Elena. Sie ist das Kind mittelloser Spanier, die nach Nordafrika ausgewandert sind und dort ein bescheidenes Dasein fristen. Der Vater schlägt sich als kleiner Bauunternehmer durch, das Geld reicht selten. Elena, das älteste der Kinder, muss von klein auf helfen und lernt früh, klaglos harte Arbeit zu verrichten und Verantwortung zu übernehmen. In die Schule geht sie, die eigentlich sehr wissbegierig ist, nur unregelmäßig.
Die freie Zeit, die ihr bleibt, verbringt Elena draußen. Allein oder mit französischen und arabischen Kameraden spielt sie am Meer. Schwimmt, taucht, fängt Fische, klettert auf die Felsen. Elena ist mutig und ungebärdig, sie liebt die Freiheit dieses Lebens über alles. Es ist, trotz der Arbeit und der Mängel, eine glückliche Kindheit. Elena und die Familie fühlen sich eher als Algerier denn als Spanier. Sie wissen, dass sie in ihr Herkunftsland nie zurück können, dass sie dort nach Francos Machtübernahme Repressalien ausgesetzt wären. Aber auch in Algerien verändert sich das Leben. Der Krieg lässt die Franzosen enger zusammenrücken, es wird schwerer für den Vater, Arbeit zu finden, sie fühlen sich ausgegrenzt. Erste Anzeichen des arabischen Widerstands gegen die Kolonialherrschaft zeigen sich. Nach dem Ende des Krieges bricht die Welt der Familie völlig zusammen. Aus den arabischen Nachbarn werden Feinde, es gibt Morddrohungen und Anschläge. Nach langem Zögern flieht die Familie nach Marokko und lebt in einem Flüchtlingslager. Elena erkennt, dass sie dort keine Zukunft hat, und da ihr Vater nicht zu bewegen ist, in Frankreich einen Neuanfang zu wagen, geht sie schließlich allein dort hin. In Paris lebt sie illegal. Als in Algerien geborene kann sie mit 21 Jahren die französische Staatsangehörigkeit beantragen, die ihr jetzt, da sie erst 18 ist, vorerst verweigert wird. Völlig mittellos schlägt sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Immer aber trifft sie auch auf Menschen, die ihr helfen, und schließlich landet sie, die als Kind von der Großmutter gezwungen worden war, nähen zu lernen, in der Modebranche als Näherin. Als sie die französische Staatsbürgerschaft erhalten hat, fährt sie in ihr fremdes Heimatland, nach Spanien. Sie erlebt die Spannungen und Bedrohungen der Francodiktatur, geht zurück nach Frankreich. Die Bekanntschaft mit einigen Italienerinnen führt sie nach Mailand, wo sie schließlich als Mannequin arbeitet. In Italien erlebt sie zum ersten Mal seit ihrer Kindheit wieder ein Gefühl von Freiheit und Ungebundenheit. Schließlich heiratet sie in eine der ältesten Familien Italiens ein. Davon handelt das Buch aber nur noch am Rande. Oberflächlich betrachtet erzählt Hélène Visconti das spannende Leben einer jungen Frau, die Arabisch, Französisch, Spanisch und Italienisch spricht, die aus Unbildung und Armut den Sprung in die High Society geschafft hat. Aber immer kommt der Schmerz über den Verlust des Landes durch, das sie für ihre Heimat hielt, immer wieder tauchen die Frage nach der eigenen Identität und der Wunsch nach Geborgenheit auf. Nirgendwo fühlt sie sich gewollt und aufgehoben, bleibt fremd im eigenen Dasein. Gleichzeitig spürt man den unbeirrbaren Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Das Buch ist in italienischer Sprache geschrieben, und Visconti sagt, es sei in der Sprache derer geschrieben, die sie sich notgedrungen angeeignet haben, weil sie sich durchschlagen mussten. Sie nennt es Mischlings-Italienisch und ich weiß nicht, ob dies Koketterie ist oder welchen Anteil die Übersetzung daran hat, dass es gerade die sprachliche Kraft und das Ausdrucksvermögen sind, die die Qualität des Buches ausmachen. Die Sprache ist von einer dichten, prallen Sinnlichkeit, gerade auch in ihrer Schlichtheit und Dezenz. Fremd ist ein beeindruckend schönes Buch. Ruth Roebke, Autorenbuchhandlung Marx & Co., Frankfurt