Zum Buch:
Autobiographisch oder fiktiv? „Wahr“ oder erfunden? Und wie klar sind diese Begriffe eigentlich voneinander abgrenzbar, wenn es um Erinnerungen geht?
Dies ist eines der zentralen Themen des aktuellen Romans von Delphine de Vigan. Wer das letzte Buch der französischen Autorin nicht kennt, erfährt in Nach einer wahren Geschichte von den Nachwirkungen des großen Romanerfolgs auf das Leben de Vigans und von der Schreibkrise, in die zumindest die Protagonistin des Buches (und/oder de Vigan selbst) immer tiefer abrutscht.
Die Geschichte und Krise nimmt ihren Anfang, als Delphine die mysteriöse „L.“ auf einer Party kennenlernt und die beiden sich in den darauffolgenden Wochen immer näher anfreunden. Delphine fühlt sich von L. verstanden und erkannt wie selten zuvor, und die Anziehung zwischen den beiden Frauen ist so intensiv, dass ihre Beziehung an manchen Stellen eher einer Liebesbeziehung als einer alltäglichen Frauenfreundschaft gleicht. Die außerordentliche Empathie von L. für Delphine verdeckt L.s Manipulation und die Destruktivität ihrer Einflussnahme. Dass L. Delphines Leben infiltriert und zunehmend annektiert, realisiert Delphine erst dann, als es längst zu spät ist. Immer verstörender vermischen sich die Identitäten der beiden und bis zum fast thrillerartigen Schluss bleibt die Geschichte packend.
Das Spiel zwischen wortgetreuem Nachzeichnen bestimmter Situationen und sehr verwischten oder gestauchten Erinnerungsfetzen unterstreicht die Frage, mit der das Buch den Leser am Ende auch entlässt: Wie verlässlich oder absolut können Erinnerungen sein? Und wollen die meisten Leser tatsächlich lieber „wahre Geschichten“ lesen?
Die mehr als gelungene Vermischung der fiktiven und autobiographischen Anteile dieses Buches macht deutlich, dass „gute Literatur“ und ein fesselndes Leseerlebnis weder an vermeintlich wahre Begebenheiten noch an stringente Fiktion gebunden ist.
Delphine de Vigan verschafft in dem vorliegenden Buch in großartigen und präzisen sprachlichen Bildern einerseits Einlass in die Gedankenwelt einer Frau, Mutter und Freundin, andererseits lässt sie den Leser an der selbstkritischen Innenschau einer Literaturschaffenden teilhaben. Und macht damit in jedem Fall Lust darauf, mehr von ihr zu lesen.
Larissa Siebicke, Frankfurt am Main