Detail

Drucken

Elada Pinjo und die Zeit

Autor
Angelova, Kerana

Elada Pinjo und die Zeit

Untertitel
Herausgegeben und aus dem Bulgarischen übersetzt von Viktoria Dimitrova Popova
Beschreibung

Elada Pinjo ist tot; ihrer Freundin hat sie vier Monate vor ihrem Tod das Fragment ihrer Memoiren überlassen und ihr Leben erzählt. Nun gibt die Freundin Eladas Erinnerungen heraus. Als die Aufzeichnungen abbrechen, rekapituliert sie zunächst die mündliche Erzählung Eladas über ihr Leben; zuletzt erfindet sie dessen Fortgang, um die Geschichte nicht unvermittelt enden lassen zu müssen. Im Original erschien der Roman 2003, geschrieben hat ihn die im bulgarischen Strandža-Gebirge geborene Kerana Angelova aber bereits viel früher. Fußnoten, ein Nachwort und ein Interview mit der Autorin kommentieren den Roman, ohne sich aufzudrängen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
INK Press, 2017
Seiten
264
Format
Kartoniert
ISBN/EAN
978-3-906811-06-2
Preis
21,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Kerana Angelova, geboren im Strandža-Gebirge, ist eine der bedeutendsten zeitgenössischen Autorinnen bulgarischer Herkunft. Ihr Werk umfasst vierzehn Bücher. Elada Pinjo und die Zeit ist ihr vielfach ausgezeichneter Debütroman. Sie lebt in Burgas.

Zum Buch:

Elada Pinjo ist tot; ihrer Freundin hat sie vier Monate vor ihrem Tod das Fragment ihrer Memoiren überlassen und ihr Leben erzählt. Nun gibt die Freundin Eladas Erinnerungen heraus. Als die Aufzeichnungen abbrechen, rekapituliert sie zunächst die mündliche Erzählung Eladas über ihr Leben; zuletzt erfindet sie dessen Fortgang, um die Geschichte nicht unvermittelt enden lassen zu müssen. Im Original erschien der Roman 2003, geschrieben hat ihn die im bulgarischen Strandža-Gebirge geborene Kerana Angelova aber bereits viel früher. Fußnoten, ein Nachwort und ein Interview mit der Autorin kommentieren den Roman, ohne sich aufzudrängen.

Als Säugling wird Elada von ihrer Mutter, einer Bulgarin, auf der Flucht im Wald zurückgelassen. Eine Hirschkuh nimmt sich ihrer an und lässt sie von ihrer Milch trinken, bis sie von Chrisula gefunden wird, einem jungen Mädchen aus einer Gruppe Karakatschanen, einem Nomadenvolk. Nun heißt Elada Despina und wird Pinjo genannt; die temperamentvolle, leidenschaftliche Chrisula wird für viele Jahre ihre engste Bezugsperson: Sie behütet und erzieht sie, spielt mit ihr und erklärt ihr die wichtigen Dinge des Lebens. Zum Beispiel, wie das mit der Liebe ist: Gott habe die Menschen in Gussformen geschaffen, dann aber die Formen entzwei gebrochen, sodass die Menschen seither ihre andere Hälfte suchen müssten. Unglücklicherweise ist Chrisulas andere Hälfte, Jorgos, mit ihrer Schwester verheiratet – was die beiden nicht daran hindert, sich heimlich zu treffen. Als das herauskommt, müssen Chrisula und Pinjo die Karakatschanen-Gruppe verlassen. Sie gehen nach Edirne und leben dort bei dem armenischen Glaser Ovanes und seiner Tochter.

Parallel erfährt der Leser von David, dem Sohn eines Schlachters und der Jüdin Zelma. Der Vater fühlt sich seiner feingeistigen Frau und dem ebenso zarten wie entschieden bildungshungrigen Sohn gegenüber so hilflos, dass er im Alkoholrausch beide misshandelt. David beschließt, fortan nicht mehr zu sprechen, zieht in die Welt – aber schon bald ist klar, dass er zurückkommen wird, denn er muss ja Pinjo Elada, seiner anderen Hälfte, begegnen.

In Edirne erleben Pinjo und Chrisula die Balkankriege von 1912 und 1913 zwischen dem Balkanbund und der osmanischen Vorherrschaft auf der Balkanhalbinsel. Die Menschen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Bulgaren, Türken, Armenier, Griechen, Albaner …), die zuvor nachbarschaftlich nebeneinander gelebt haben, werden plötzlich auf ihre Unterschiede verwiesen. Auch Pinjo stößt auf ihre bulgarischen Wurzeln und wird nun wieder Elada genannt, obwohl sie selbst Zeit ihres Lebens auf dem Namen Pinjo besteht, den ihr Chrisula gegeben hat.

Die Handlung nachzuerzählen kommt diesem Buch in keinster Weise nahe. Das Besondere daran liegt in der Atmosphäre, die entsteht, wenn Mythos auf Historie trifft, und so auf die geheimnisvollen und verborgenen Unterströmungen des historisch Konkreten aufmerksam macht. Die Figuren sind weniger Protagonisten eines Romans als vielmehr universelle Figurationen, die aber plötzlich mit historisch verortbaren Situationen konfrontiert werden.

Da ist zum Beispiel die Figur der Nackten Anna. Als kleines Mädchen musste sie erleben, wie ihre gesamte Familie umgebracht wird. Sie begrub sie allein und weigerte sich fortan, Kleider zu tragen. Keinem Menschen ist es je gelungen, sie davon zu überzeugen, auch nur das kleinste Tuch anzulegen. So streicht sie nackt durch die Stadt, bis sie nach einer Misshandlung zur Fischerin kommt. Der Fischerin schließlich gelingt es, die Nackte Anna mit viel Geduld langsam an Kleidung zu gewöhnen. Die allegorische Figur der Fischerin ist das Zentrum des Romans, an dem sich alle Wege kreuzen und eine neue Richtung nehmen, und bei ihr treffen sich auch die Erzählungen von Pinjo, David und Anna.

„Seit ich einen Blick in ihre Augen getan habe, dämmert mir allmählich der Sinn, David. Weil ich ja in mir drinnen alles weiß, nur den Sinn kenne ich nicht. Seit kurzem erahne ich ihn, seit ich Anna begegnet bin.“ So Pinjo über ihre Begegnung mit der Nackten Anna. Ganz genauso geht es aber auch dem Leser bei der Begegnung mit diesem Roman, und genau diese Ahnung macht die ungeheure Kraft von Angelovas Magischen Realismus aus: Elada Pinjos Geschichte scheint aus der Urzeit der Mythen zu kommen und bis ins 20. Jahrhundert hinein zu wachsen. Ein wundervolles Buch.

Alena Heinritz, Graz