Zum Buch:
In ihrem neuen Roman entwirft die französische Autorin Cecile Wajsbrot eine Dystopie in einer nahen Zukunft. Eine einsame Erzählerinnen-Stimme spricht Nacht für Nacht Texte über eine neue Gegenwart ein, in der jede Vergangenheit und jedes Erinnern verboten ist. Ein Setting, das stark an Samuel Becketts Roman Molloy erinnert. Es ist von einer Machtübernahme die Rede, von einem Moment, der sowohl Befreiungsschlag als auch Katastrophe gewesen sein könnte. Die Informationen, die wir über die neue Gesellschaftsordnung und ihre Machthaber erhalten, sind denkbar rar. Erzählungen sind aus der Mode gekommen; sind sie älter als 10 Jahre, steht ihr Besitz sogar unter Strafe. Alle Bücher wurden aus sämtlichen Häusern entfernt. Widerstand gab es wenig, zu verständlich für jeden scheinbar das von der Erzählerin beschriebene Gefühl, sich mit der Entledigung des Vergangenen nun endlich dem Wesentlichen und Zukünftigen zuwenden zu können. Der Eindruck, den wir von der Erzählerin bekommen, changiert vor dem Hintergrund ihrer vagen Angaben. Ist dieses neue Regime, von dem die Rede ist, progressiv oder reaktionär? Oder doch eine im stillen Zimmer selbst ausgeformte Verschwörungstheorie? Der Widerstand, in dem sie sich mit ihren Aufzeichnungen engagiert, bleibt ebenso ungreifbar.
Das mag als inhaltliche Zusammenfassung eines Romans kaum genügen. Doch das Entscheidende dieses Buches liegt nicht in seiner Handlung, seinem Personal oder seinem sozialen Kontext. Es ist die minutiöse Ausarbeitung eines Gefühls, dass die Leserin mit der Erzählerin teilt: eine Art Hilflosigkeit im Angesicht des Unwissens. Die eigene Haltung und Einschätzung zum Gelesenen verändert sich mit jeder Seite. Darin liegt einer der größten Stärken des Textes. Immer wieder glaubt man entschlüsselt zu haben, um wen es sich bei den Machthabern oder den Widerständlern handeln könnte; bis diese Vermutungen sich wieder zerschlagen.
Die einzigen Inseln innerhalb dieses Erzählstroms sind kurze Rekapitulationen von Biographien oder Werken von Autor*innen, deren Geschichten ebenfalls Zensur und Zerstörung unterworfen waren. Zum Beispiel die Anstrengungen Nadeschda Mandelstams, die die Gedichte ihres Mannes im Exil aus dem Gedächtnis niedergeschrieben hat. Sie bilden kurze Erholungsmomente, für die man unwahrscheinlich dankbar ist.
Wajsbrots faszinierender Text ist eine Studie über Konturlosigkeit, Unwissen und Hoffnung. Aber vor allem ist es die Ausarbeitung der Vorstellung einer radikalen Gegenwart, in welcher es kein Erzählen mehr geben kann. Die genaue Übersetzung durch Anne Weber lässt die Einfühlung spüren, mit der Cécile Wajsbrot ihre Protagonisten betrachtet, das Vertrauen, das diese in ihr unsichtbares Gegenüber setzt, als ebenso notwendig wie fragwürdig erscheinen. Ein großartiges Buch über Ratlosigkeit, Hoffnung, Skepsis und Erinnerung. Kurz: ein Buch, dass uns die Gefahren und Möglichkeiten des (unzuverlässigen) Erzählens vorführt.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt