Zum Buch:
Als sie am Meer lebt, in einem winzigen, baufälligen Haus an einer ungepflasterten, sandigen Straße, erinnert sie sich. An ihre Tochter Ann, die ausgezogen ist, um auf Reisen zu gehen. An ihren Mann Otis, dem sie heute noch schreibt. An den Zauberer, der sie in einer Tankstelle angesprochen und bei sich zu Hause zersägt hat – nur zum Schein – und sie auf dem Schiff nach Singapur mitnehmen wollte. Sie kann die Erinnerungen kommen und gehen lassen. Sie ist frei, ziemlich frei.
Nach Singapur ist sie nicht gegangen damals, hat das Schiff fahren lassen und dann ihren Mann kennengelernt, ist Mutter geworden. Ann auf ihrem Schoß, Anns Köpfchen an ihre Schulter gelehnt: Das alles hätte es in Singapur nicht gegeben. Es wäre Anderes geschehen in den 30 Jahren, die zwischen dem Erzählen und dem Erinnerten liegen.
Die Geschichte mit dem Zauberer ist beim Aufstellen der Marderfalle wieder in ihrem Gedächtnis aufgetaucht. Diese Falle, die Mimis Bruder Arild bei ihr aufgestellt hat, gleicht der Kiste, in die sie sich damals legen musste. Arild ist der Bauer mit den tausend Schweinen im Ort, Mimi die Nachbarin am Deichpolder, die ihre Leinwände am Rand der Salzwiesen in den Schlick legt, die Flut darüber gehen lässt und dann nachschaut, was sie eingefangen hat. Mimi, die nackt Rasen mäht, wenn es heiß ist.
Es ist der Tonfall, den Judith Hermann in diesem Roman perfektioniert, ein Tonfall, der den Abstand der Erzählerin zu ihrem eigenen Leben, der ihre Gelassenheit direkt greifbar macht. Es scheint ganz einfach, jemanden so nüchtern und selbstvergessen erzählen zu lassen. Aber das ist es nicht. Es ist nicht einfach, es ist großartig.
Susanne Rikl, München