Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Kurkow, Andrej

Graue Bienen

Untertitel
Roman. Aus dem Russischen von Sabine Grebing und Johanna Marx
Beschreibung

Es ist die Zeit nach der Annexion der Krim durch die russische Armee. Ein Dorf im Donbass, inmitten der Kampfzone zwischen prorussischen Separatisten und dem ukrainischen Militär. Nur zwei Männer sind im völlig zerstörten Dorf geblieben: der Bienenzüchter Sergej und Paschka, sein Feindfreund aus Kindertagen. Sie bilden eine seltsame Notgemeinschaft und wissen genau, dass sie zum Überleben aufeinander angewiesen sind. Als nach dem langen Winter der Frühling kommt und die Kriegshandlungen wieder zunehmen, macht sich Sergej auf die Suche nach einem sicheren Ort, an dem die Bienen in Ruhe Nektar sammeln können. Die Suche führt Sergej aus dem umkämpften Donbass zunächst in die Ukraine, dann bis auf die Krim. Eine Odyssee, bei der er mehr als einmal zwischen die Fronten gerät und lernt, Verantwortung nicht nur für seine Bienen zu übernehmen.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Diogenes Verlag, 2021
Format
Taschenbuch
Seiten
448 Seiten
ISBN/EAN
978-3-257-24554-7
Preis
13,00 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen (er spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Sein Roman ›Picknick auf dem Eis‹ ist ein Welterfolg. Kurkow lebt als freier Schriftsteller in Kiew und arbeitet auch für Radio und Fernsehen.

Zum Buch:

Es ist Krieg im Donbass, seit fast 3 Jahren schießen prorussische Separatisten und ukrainische Soldaten Tag für Tag aufeinander. Zwischen den Fronten, in der grauen Zone, ein kleines Dorf, in dem nur noch 2 Männer ausharren: Der Bienenzüchter Sergej und Paschka, sein Feind-Freund seit Kindertagen. Der Rest der Bevölkerung ist geflohen, oder den Angriffen zum Opfer gefallen. Die Kirche ist zerstört, ebenso der Friedhof. Es gibt nur noch zwei Straßen, aber die sind durch Granatenbeschuss nur noch für Panzer befahrbar. Strom gibt es seit langem nicht mehr, zum Einkaufen muss man in die umliegenden Dörfer, wo das Leben noch fast normal verläuft. Geblieben sind Sergej die 6 Bienenstöcke und die amerikanischen Stiefel, die ihm einst der neue ukrainische Gouverneur geschenkt hat, als er vor dem Krieg ins Dorf kam, um sich auf Sergejs Bienenbett ein wenig vom Stress der Politik zu erholen. Die große Politik hat Sergej noch nie interessiert, und gegen die Angst helfen Wodka und Honig. Seine Devise ist es, sich nicht einzumischen. Aus staunender Distanz beobachtet und kommentiert er das irrsinnige Kriegsgeschehen und beerdigt nebenbei auch mal einen Soldaten, der erschossen, von welcher Seite auch immer, auf dem Feld liegt, das gebietet die Menschlichkeit.

Als der Frühling kommt und die Kriegshandlungen wieder zunehmen, begibt sich Sergej auf die Suche nach einem friedlichen Ort für seine Bienen. Die Reise führt ihn zunächst in die Ukraine, dort lebt er einige Zeit unbeschwert, umsorgt von Galia, der Verkäuferin aus dem Gemischtwarenladen. Doch dann gerät Sergej bei der Beisetzung eines im Donbass getöteten Soldaten allein wegen seines Autokennzeichens aus der Region Donez in Verdacht, zur Gegenseite zu gehören.

Nach dem Angriff eines traumatisierten Kriegsveteranen auf sein Auto und die Bienenstöcke verlässt Sergej fluchtartig das Dorf und begibt sich auf den Weg auf die Krim, wo er sich Hilfe von seinem tatarischen Imkerfreund Achtem erhofft. Doch sein Freund Achtem ist nicht mehr da, schon vor zwei Jahren wurde er verschleppt und gilt seitdem als vermisst. Achtems Frau und seine Kinder erlauben Sergej dennoch, seine Bienenstöcke neben ihre zu stellen, versorgen ihn mit Lebensmitteln und helfen ihm bei der Imkerei. Es ist eine paradiesische Zeit, die allerdings nur kurz währt: Er kommt der Bitte von Achtems Frau nach, in die Hauptstadt zu fahren, um sich bei den Behörden nach Achtems Verbleib zu erkundigen, denn das gebietet ihm die Menschlichkeit, weiß er doch, dass die Behörden einer muslimischen Tatarin keine Auskunft geben werden. Auf der Behörde stellt sich heraus, dass sein Freund schon lange tot ist. Der Leichnam wird der Familie übergeben, das Haus von der Miliz umstellt und Bekir, Achtems Sohn, mit fadenscheinigen Gründen verhaftet. Auch diesmal geht Sergej zur Polizei, um sich für Bekir einzusetzen, aber ohne Erfolg. Bekir hat nur drei Möglichkeiten: den Dienst in der russischen Armee, Gefängnis oder Freikauf durch seine Mutter, und er wählt das Gefängnis. Während sich das Netz um die Familie weiter zuzieht, sammeln die Bienen weiterhin fleißig Nektar. Doch als auch sie vom Staatsschutz beobachtet werden, weiß Sergej, dass es Zeit ist, nach Hause zu fahren. Vorher aber bringt er Ayse, Achtems Tochter, in der freien Ukraine in Sicherheit.

Graue Bienen ist ein stiller, zutiefst berührender Roman. Erzählt mit dem feinsinnigen Humor, der Kurkows Schreiben auszeichnet, ist er ein Plädoyer für die Menschlichkeit, zuweilen ein Schelmenstück, ein Roadtrip und letztlich die bedrückende Darstellung eines grausamen Machtapparates, der nichts als Zerstörung und Angst befördert und einen Krieg zu Menschen bringt, die doch eigentlich Brüder waren. Putins Desinformationspolitik, der Expansionismus und die Machenschaften der Geheimdienste werden an vielen Stellen thematisiert, ebenso wie die schleichende Angst der Bevölkerung vor einer Staatsmacht, die ihre Grausamkeit und Willkür in perfiden Spielen zeigt. Was sich 2019 beim Erscheinen des Buches vielleicht noch als ferne Dystopie lesen lies, ist heute leider zur grausamen Realität in Europa geworden.

Zur weiteren Lektüre empfehle ich unbedingt Kurkows: Ukraine Diaries, Dispatches from Kiew. Zur Zeit des Maidan-Aufstandes und der Krim Annexion verfasste Reportagen, die sich aus heutiger Sicht wie die Chroniken eines angekündigten Krieges lesen.

Andrea Schulz, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt