Zum Buch:
William Sidis Eltern sind ukrainische Juden, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts vor Pogromen in die USA auswanderten und sich dort – wie man heute sagen würde – hervorragend integrierten. Boris Sidis ist Psychiater, Sarah Ärztin. Ihren neu geborenen Sohn wollen sie mit einer unkonventionellen Methode erziehen, denn Boris ist überzeugt, dass selbst Babys schon als normale Erwachsene behandelt werden sollten. Er ist strikter Gegner von Babysprache und zuviel Hilfe und Bindung. So soll der Intellekt seines Sohnes von klein auf herausgefordert werden. Und die geistige Entwicklung des Kleinkindes gibt ihm recht: der Säugling bringt sich das Essen mit dem Löffel selbst bei, im Alter von zwei Jahren kann der kleine William bereits lesen, die gesamte Grundschulzeit absolviert er in sieben Monaten und so geht es weiter. Er wird das jüngste Kind sein, das je in den USA eine High-School und eine Universität besucht hat. Längst ist die Presse auf das Wunderkind aufmerksam geworden, und die Öffentlichkeit wird von jedem seiner neuen Schritte unterrichtet. Der beruflichen Laufbahn seines Vaters, der selbst als extrem intelligent gilt, ist diese Aufmerksamkeit durchaus hilfreich, und der Mutter, die Mann und Kind zuliebe auf eine eigene Karriere als Ärztin verzichtet hat, öffnet der kleine, bestaunte William – ein überaus höfliches und freundliches Kind – die Türen der Bostoner Upper-Class. Alle sagen William, der eine große Anzahl von Sprachen spricht und ein fotografisches Gedächtnis hat, eine große Karriere als Mathematiker, Astrophysiker oder Philosoph voraus. Aber es kommt anders.
William wächst zu einem schwierigen Kind heran. Weder hat er zu Hause – abgesehen von seinen intellektuellen Leistungen – je Lob erfahren noch körperliche oder seelische Wärme. Kontakt zu Gleichaltrigen hat er nicht, da sein Vater kindliche Spiele und körperliches Austoben für überflüssig hält. Zudem ist er in der Schule und sogar später auf der Universität ständig in der Rolle, seiner Umwelt geistig überlegen, an körperlicher und seelischer Entwicklung jedoch unterlegen zu sein. Er wächst heran, verliebt sich in eine junge kommunistische Aktivistin und wird 1919 bei einer Demonstration verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, vor der ihn seine Eltern bewahren. Und das ist das Schlimmste, was ihm passieren konnte …
Das perfekte Leben des William Sidis erzählt von einem außergewöhnlichen Menschen, der trotz seiner vielfältigen Begabungen eigentlich nur eines will: ein ganz normales Leben führen, der aber, trotz aller Rückzugsversuche, seiner Umwelt nicht entkommen kann. William Sidis ist ein zutiefst verunsicherter und einsamer Mensch, den niemand wirklich versteht und der trotz – oder gerade wegen – seiner Fähigkeiten scheitert. Morten Brask hat aus diesem tragischen Schicksal ein außergewöhnlich packendes Buch gemacht.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt