Zum Buch:
Was entsteht, wenn der Mond von seinen Eindrücken von der Erde berichtet? Gewiss keine gewöhnlichen, menschlichen Erzählungen. Mahens „Phantasien“ sind Märchen, schön und sonderbar, „halbmenschlich“. Kaum meint man als Leser einen Zusammenhang begriffen zu haben, verschwimmt alles schon wieder. Wie sollte es auch anders sein, denn die Übersetzung der Mondperspektive in die Sprache des Menschen ist keine einfache Angelegenheit: „Meine silberne Welt hat ihre Gesetze, aber soll ich sie dem Menschen verständlich machen, muss ich ein wenig geschwätzig werden, gerade dann in das Knäuel meiner Phantasie, das schwer zu entwirren ist.“
Das Vorwort gibt dem Buch seinen Rahmen. Es handelt sich dabei um einen Brief vom Sektionschef im Ministerium für Volksaufklärung auf dem Mond, Algernon P. Moonshiner, an den Gesandten des Mondreiches in Prag. Moonshiner kommentiert darin die 30 im Buch folgenden Texte, indem er sie in den Kontext der Literaturgeschichte einreiht. Aus Mondperspektive, versteht sich.
Jedes der dann folgenden kurzen Kapitel steht für eine Nacht und für ein Märchen, das der Mond einem Menschen erzählt. Zu Beginn jedes der Kapitel steht ein kurzes Gespräch zwischen Mond und Mensch. Der Mond fragt nach, ob ihm auch richtig zugehört wird, und der Mensch äußert unverfroren seine Meinung über die Geschichten. Traurig endet die Bekanntschaft: Bei Neumond müssen sie sich trennen, und der Mondsüchtige wird eingesperrt.
Denn jedes Kapitel steht für eine der Mondphasen, sodass das Buch insgesamt einmal den Lauf des Mondes um die Erde nachvollzieht. So ist auch jedes einzelne Märchen von einem bestimmten Mondblickwinkel auf die Erde geprägt: Der Mond schildert tragische und wunderbare Ereignisse auf der Erde von Sibirien bis Amerika, die er auf seinen nächtlichen Runden beobachtet hat. Nichts bleibt ihm verborgen. Auf seiner nächtlichen Bahn blickt der Mond in versteckte Zimmer und kennt die heimlichen Gefühle der Verliebten, die Gespräche der Möbel eines jungen Dichters, das Gebet zweier Hechte und die Gedanken eines Ahorns. In einem der Märchen berichtet der Mond, wie er dem vergessenen Ritter folgte und antiken Mythengestalten begegnete, in einem anderen erzählt er davon, wie König David nicht mehr wusste, was er singen soll. Der Mond reflektiert dabei über seine ganz eigene Perspektive auf die Welt. Er habe ein „halbmenschliches“ Herz, das ihn mitfühlen lässt. Zugleich aber stehe er weit über dem vergänglichen Geschehen auf der Erde. Aus dieser fremdartigen Perspektive entsteht die ganz sonderbare, surrealistische Ästhetik der Märchen.
Das Nachwort des Übersetzers Eduard Schreiber, der sich Radonitzer nennt, gibt Einblicke in Kontext und Rezeptionsgeschichte des Werks. Dieses Büchlein aus dem Jahr 1920, so Schreiber in seinem Nachwort, stelle das Zentrum von Mahens Gesamtwerk dar. Wegen seiner Sonderbarkeit brauchte es einige Zeit, bis „Der Mond“ seine verdiente Anerkennung fand. Die deutsche Ausgabe Schreibers tut nun ihr Übriges dazu.
Der Autor dieser rätselhaften „Phantasie“, Jiří Mahen (eigentlich Antonín Vančura, 1882-1939), war ein Vertreter des Poetismus, eine Antwort der tschechischen Avantgarde auf den französischen Surrealismus. Mahen prägte maßgeblich das kulturelle Leben in Brno. 1939 beging er als Reaktion auf die nationalsozialistische Besetzung Böhmens und Mährens Selbstmord. In seiner Jugend gehörte er zu einem Kreis anarchistischer Dichter um Stanislav Kostka Neumann, einem Mitbegründer der kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei. Der Lyriker Mahen entwickelte sich unter diesem Einfluss weiter zum gesellschaftskritischen Dramatiker. Auch in seiner Prosa, und sei sie noch so fantastisch wie „Der Mond“, spielt die Reflexion sozialer Fragen eine Rolle.
Eindeutig ist nichts bei der Lektüre des Buches, und trotzdem entsteht danach so etwas wie Klarheit. Um den Mond in einer seiner Geschichten zu zitieren: „Im Halbschlummer erzählt man sich die schönsten Sachen, scheinbar ohne Inhalt und scheinbar ohne Idee, aber dafür schöner…“ Nicht besser könnte man dieses wunderschön gestaltete Buch beschreiben.
Alena Heinritz, Graz