Zum Buch:
Ein polnischer Kontingentflüchtling, der sich als weltbekannter Graphologe herausstellt, und ein „58er“ – ein nach Paragraph 58 wegen Spionage, Terror und konterrevolutionärer Agitation verurteilter junger deutscher Kommunist und Linotype-Setzer – landen im Krankenlager des Besserungsarbeitslagers von Safranowka auf zwei Pritschen, dicht an dicht. Sie werden vom Oktober 1940 an viele Stunden, Tage und Monate teilen, angefüllt mit Verhören, Bestrafungen und Vorzügen, und sie werden den Glanz der mondänen Welt der 1920er-Jahre in die Baracken des Lagers nördlich von Kotlas tragen. Gut erzählen zu können ist in diesem Gulag-Roman nämlich eine mehr als überlebensnotwendige Fähigkeit, sie wird in jeder denkbaren Hinsicht zelebriert.
Das Lager steht Kopf. Denn unter den knapp tausend Häftlingen, von denen ein Großteil täglich beim Schlagen und Verarbeiten von Holz Minustemperaturen und extremen Arbeitsbedingen ausgesetzt ist, hat sich sofort herumgesprochen, dass der 66-jährige Neue, frisch an den Gleisen angekommen, vom Depotverwalter Trufulski sofort zur Krankenstation transportiert worden ist. So eine Sonderbehandlung hat es im Lagerleben bisher noch nicht einmal für die Ganoven aus Baracke 5 gegeben, die nur dann zum Appell antreten, wenn ihnen gerade danach ist, und die auch keine Wache zum Arbeiten abführt, weil unter ihnen mehr Mörder als andere Verbrecher sind.
Im Lazarett stellt der junge deutsche Kommunist Otto Haferkorn mit Verwunderung fest, dass der Neue, Rafael Schermann, wahre Schätze mit sich herumträgt, unter anderem ein Adressbuch mit Einträgen zu Oskar Kokoschka, Else Lasker, Karl Kraus, Martha Musil, Alfred Döblin, um nur einige zu nennen. Auch in andere Hinsicht ist der Alte ein Kuriosum: Kaum eingeliefert, bekommt Schermann Besuch von Lager-Kommandant Kosinzew, der das Lazarett bei dieser Gelegenheit wahrscheinlich zum ersten Mal von innen sieht. Damit nicht genug: Schermann gibt vor, als gebürtiger Pole kein Russisch zu sprechen, und es scheint für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass ihn Genosse Haferkorn fortan als Übersetzer begleitet. Ein Jahr lang sind die beiden unzertrennlich, der eine der Spiegel des anderen. Doch was wollen die maßgeblichen Persönlichkeiten des Lagers, Hauptmann Kosinzew, Ganovenchef Uspechin und Lazarettleiter Petrenkow wirklich von dem Alten? Geschichten, die ihnen das Lagerleben erleichtern? Eine gefälschte Unterschrift? Einen Blick in ihre Zukunft?
Steffen Menschings Gulag-Roman, für den er mehr als zehn Jahre recherchiert hat, basiert auf der realen Figur des Rafael Schermann, der sich seine Begabungen zunutze machte und vom Versicherungskaufmann zum angesehenen Graphologen und Hellseher avancierte: Ein echter Lebemann, der mit der intellektuellen und wirtschaftlichen Elite der 1920er-Jahre dinierte und sich in der feinen Gesellschaft besser auskannte als vielleicht jeder andere. In einem sowjetischen Arbeitslager verliert sich in den 1940er-Jahren Schermanns Lebensspur. Und hier lässt Mensching seinen Jahrhundertroman beginnen …
Susanne Rikl, München