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Autor
Wodin, Natascha

Sie kam aus Mariupol

Untertitel
Beschreibung

Eine Schriftstellerin in ihrem Ferienhaus an einem Mecklenburger See sucht nach einem neuen Thema für ein Buch. Warum nicht die eigene Familiengeschichte? Was sie bei ihrer Recherche dann alles findet, ist aber mehr als Stoff für ein Buch und verändert ihr Leben.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Rowohlt Verlag, 2017
Format
Gebunden
Seiten
368 Seiten
ISBN/EAN
978-3-498-07389-3
Preis
19,95 EUR

Zur Autorin/Zum Autor:

Natascha Wodin wurde 1945 als Kind verschleppter sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren und wuchs in deutschen DP-Lagern auf. Nach Jahren in einem katholischen Mädchenheim, in dem sie nach dem frühen Tod der Mutter untergebracht wurde, arbeitete sie zunächst als Telefonistin und Stenotypistin. Anfang der siebziger Jahre absolvierte sie eine Sprachenschule und arbeitete als Dolmetscherin. Dann begann sie, Literatur aus dem Russischen zu übersetzen, und lebte zeitweise in Moskau. Seit 1981 ist sie freie Schriftstellerin und bekam für ihre Bücher zahlreiche Preise.

Zum Buch:

Eine Schriftstellerin in ihrem Ferienhaus an einem Mecklenburger See sucht nach einem neuen Thema für ein Buch. Warum nicht die eigene Familiengeschichte? Was sie bei ihrer Recherche dann alles findet, ist aber mehr als Stoff für ein Buch und verändert ihr Leben. Wodins Buch Sie kam aus Mariupol hat 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Unumstritten war dieser Preis nicht, denn immer wieder wurde moniert, es sei kein Roman, sondern vielmehr eine reine Dokumentation.

Und zunächst wirkt der Text wirklich wie die Dokumentation einer genealogischen Recherche. Auf der Suche nach Stoff für ein neues Buch gibt die Erzählerin – ohne viel Hoffnung auf Erfolg – den Namen ihrer Mutter in das russische Internet ein und wird sofort fündig: Auch wenn ihre Mutter keinen ungewöhnlichen Namen trug, stimmen Geburtsjahr und der Geburtsort Mariupol mit dem wenigen überein, was sie über ihre Mutter weiß. Die Mutter der Erzählerin hatte sich das Leben genommen, als die Tochter zehn Jahre alt war. Kaum etwas wusste die Tochter über sie: sie war 1944 als sogenannte „Ostarbeiterin“ gemeinsam mit ihrem Mann aus der Ukraine ins nationalsozialistische Deutschland deportiert worden und war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Weile in einem Lager für „Displaced People“, bevor sie, staatenlos, allein mit ihrem Mann in einem Schuppen in der Nähe von Nürnberg zurechtzukommen versuchte. Dort war die Erzählerin 1945 geboren worden. In der Schule dann wurde sie von Mitschülern und Lehrern als Russin und damit als dem Feind zugehörig grausam getriezt. Die Zusammenhänge erschlossen sich ihr als Kind nicht; sie wusste nur, dass sie „zu irgendeinem Kehricht“ gehörte, „der vom Krieg übriggeblieben war“, und hatte deshalb lange versucht, Herkunft und Familie zu vergessen.

Nun aber forscht sie weiter – nächtelang in ihrem einsamen Häuschen in Brandenburg – und lebt zunehmend nur noch in der Welt der Vorfahren. Über das Internet gerät sie an den findigen Genealogen Konstantin, der ihr hilft, immer mehr Material zu finden. So finden sich immer mehr Puzzle-Teile der Geschichte ihrer Mutter, und es entsteht ein vollkommen neues Bild: Ihre Mutter stammte aus einer adeligen Familie. Unter dem Stalinismus musste sie ihre Herkunft verbergen. Jetzt kann die Erzählerin noch lebende Verwandte kontaktieren und erhält von einem dieser Verwandten sogar die Memoiren ihrer Tante Lidia.

Aber auch wenn ihr die Informationen nur so zuzufallen scheinen, fällt es ihr nicht leicht, sich in diese Geschichte von Hungersnöten, Deportationen, Mord und Totschlag zu versenken. Wie bereits in ihrer Kindheit, in der sie um jeden Preis die stigmatisierende Herkunft loswerden wollte, fragt sie auch jetzt, was sie mit dem ganzen zu tun haben soll – noch dazu, als sie auf dunkle Geheimnisse innerhalb der eigenen Familie stößt. Aber es hilft nichts, der Geschichte will sie nun auf den Grund gehen.

Der sprunghafte Text gibt auf großartige Weise diesen Wechsel zwischen Widerwillen gegen die eigene Abstammung und Identifizierung damit wieder, wechselt zwischen der Erzählerstimme und ihrer retrospektiven Perspektive zu der der Figuren der Vergangenheit. Fotos zu Beginn jedes Kapitels bieten Anlass, über die vergangenen Gegenwarten nachzudenken. Nach und nach merkt die Erzählerin, dass es sich bei den Vorstellungen, die sie über ihre Familie hatte (italienische Vorfahren, ein Opernsänger als Onkel), nicht nur um Wunschvorstellungen handelte, die ihr über den trostlosen Lageralltag und die Grausamkeit ihrer Mitschüler hinweg helfen sollten, sondern dass sie tatsächlich wahr waren.

Ausgehend davon stellt Wodins Erzählung nun die Frage, was von den wenigen verschwommenen Kindheitserinnerungen und den daraus entstandenen Imaginationen bleibt, wenn sie mit Dokumenten konfrontiert werden. Die Erzählerin versucht, die Grenzlinie zu finden, an der sich so etwas wie Wahrheit finden lassen könnte. Das macht dieses Buch so ungeheuer interessant: Es ist nicht nur eine historische Recherche in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, sondern eben ganz besonders auch eine literarische Recherche zu den Geschichten, die ein Menschenleben so entscheidend prägen.

Alena Heinritz, Graz